Im Alter von 10 Jahren bekam ich zum ersten Mal Hörgeräte, und als Vorzeige-Schwerhöriger kann ich natürlich stolz berichten, dass ich sie nicht nur besaß, sondern auch konsequent trug- in der Hosentasche. So kam es, dass meine erste Hörgerätegeneration ihr trauriges Ende in einer Waschmaschine fand. Glücklicherweise, das kann ich heute sagen, bin ich dadurch aber nicht um eine Versorgung herum gekommen. Natürlich dauerte es einige Zeit, bis ich erkannte, dass es besser ist, „der Schwerhörige“ zu sein , als der komische Junge, der häufig auf Ansprache nicht reagiert, anderen ständig ins Wort fällt, nicht zuhört („Ja, ja…“) und generell ein bisschen schwer von Begriff ist.
Ich bin mit der Schwerhörigkeit aufgewachsen, oder, besser ausgedrückt: in sie hineingewachsen. Und wenn ich zurück blicke muss ich erkennen, eine Schwerhörigkeit verändert einen. Und zwar unabhängig davon, ob man sich mit ihr ganz bewusst oder im Gegenteil möglichst wenig auseinandersetzt. Letzteres war als Jugendlicher lange Zeit meine Strategie, da ich alles sein wollte, nur nicht schwerhörig.
Ein Vorteil der Arbeit mit schwerhörigen Menschen ist, dass man sich eigener Verhaltensmuster bewusst wird. Nicht selten muss ich mir insgeheim eingestehen, dass ich genau die ungünstigen Verhaltensweisen, die ich meinen Patienten abgewöhnen will, selbst in vielen Situationen noch zeige. Ein Schlüsselereignis war der Moment, als meine Frau mich, nachdem sie einen meiner Vorträge gehört hatte, beiseite nahm mit dem Kommentar: „Du hast so eine kluge, humorvolle und lockere Art, deine Patienten zu konfrontieren und gibst ihnen so viele wertvolle Ratschläge für einen besseren Umgang mit ihrer Schwerhörigkeit – aber einiges davon setzt Du doch im Alltag selbst nicht um, oder?“.
Die große Frage ist für mich immer folgende: Bin ich mir meiner Schwerhörigkeit wirklich bewusst? Oder verdränge ich manche Aspekte immer noch?
Wir arbeiten in der Therapie, konkret beim Hörtraining, häufig mit Hörbüchern, die wir unseren Patienten ausleihen. Eine (guthörende) Kollegin bat mich eines Tages darum, mir das Hörbuch vom kleinen Prinzen anzuhören. Ihr falle es schwer, zu beurteilen, wie anspruchsvoll dieses hinsichtlich des Sprechtempos sei. Ich freute mich nicht unbedingt darauf, schließlich kannte ich diese Geschichte bereits in- und auswendig. In der Schule hatten wir sie vorgelesen bekommen und sogar eine Theateraufführung besucht. Meine Erinnerung an das Bühnenbild, die Fliegerbrille des Piloten und andere Einzelheiten stand mir noch ganz klar vor Augen. Ich erinnerte mich sogar daran, wer neben mir in der ersten Reihe saß, aber das ist eine andere Geschichte…
Die Geschichte auf dem Hörbuch hatte nur entfernt Ähnlichkeit mit der, die ich in meinem Kopf abgespeichert hatte. Ich musste mir eingestehen: Heute, mit 37 Jahren, hörte ich die Geschichte des kleinen Prinzen im Grunde zum ersten Mal. Und doch war es mir damals so vorgekommen, als hätte ich die Geschichte verstanden. Meine Geschichte war nicht unbedingt schlechter, aber doch stelle ich mir die Frage, wie viele Geschichten ich in meinem Leben wohl verpasst habe. Wie viele vielleicht besser waren, als die, die ich in dem Glauben erschaffen habe, dass ich ja eigentlich ganz gut höre und das, was ich nicht gehört habe, bestimmt nicht so wichtig war…