Der Silvesterabend ist für mich eigentlich immer der Abend des „nicht-tun-dürfen“ gewesen. Als meine Hörbehinderung noch nicht bekannt war, war ich zu jung für Raketen und Böller und durfte diese nicht anfassen. Und als ich alt genug dafür war, hat die jahrelange Gehirnwäsche der Ärzte und Eltern Früchte getragen: Als hörbehinderter Mensch müsste ich immer aufpassen. Denn wenn ein Böller neben mir hoch geht könnte ich ja ganz ertauben. Die Angst vor der Gehörlosigkeit war bei mir sehr groß und deshalb hörte ich ausnahmsweise auf die Warnungen der Erwachsenen. Ich durfte nicht in die laute Stadt gehen und akzeptierte das auch so.
Als meine Hörbehinderung und Gleichgewichtsschwäche vor ca. 15 Jahren diagnostiziert wurde – ich war gerade mal zarte 11 Jahre alt – war ich fortan vor allem für meine Mutter sowieso nur mehr ein wandelndes Pulverfass. Klar, sie sorgte sich um mich. Aber man wollte mir all die schönen Sachen verbieten, wie Turmspringen, Musizieren oder Musik via Kopfhörer hören (damals noch auf Disk- und Walkman, falls ihr noch wisst was das ist) oder auf Dachstühlen oder Bäumen herumklettern und vieles mehr. Klar war das alles für jemanden wie mich sehr gefährlich. Ich hatte auch schon eine lange Krankenakte mit mehreren Flickwunden und Knochenbrüchen. Aber man konnte mir doch nicht alles was Spaß macht verbieten? Meine Eltern erkannten irgendwann, dass für einen aufgeweckten Jungen wie mich all diese Verbote eher kontraproduktiv waren. Denn vieles davon habe ich eh trotzdem gemacht und ich wurde dann später nicht mehr dafür bestraft. Einen bösen Blick von meiner Mutter habe ich dafür trotzdem immer geerntet, inklusive Voraussagen über meine bevorstehende Taubheit.
Über Silvester bekam ich allerdings alle möglichen Horrorszenarien von meinen Ärzten und auch von meinen Eltern eingetrichtert. Dass jeder Knall das letzte Geräusch sein könnte, welches ich hören würde, waren da noch eine der glimpflichsten Schauergeschichten. Als Kind mochte ich Silvester noch wegen der Raketen und der Böller und wegen der Taschengeldaufbesserung am darauffolgenden Tag. Je älter ich aber wurde umso mehr Abneigung empfand ich gegen den Abend. Und nicht nur, weil mir der Jahreswechsel permanent miesgemacht wurde, sondern auch weil ich die Gefahr einsah und das Schicksal nicht herausfordern wollte. Raketen und Böller sind und waren laut und es gibt zahlreiche Menschen, die sich an diesem Abend verletzen. Ein Beispiel diesbezüglich, welches sich bei mir eingebrannt hat, war der Fall des Fußballprofis Georg Koch:
Georg Koch war 2008 Torhüter bei Rapid Wien. Beim Wiener Derby warf dann ein unbekannter Vollidiot einen Böller in Richtung Rapid-Tor. Der Knallkörper detonierte neben Koch und dieser musste daraufhin seine Karriere wegen einer Innenohrschädigung beenden. Genau vor einem ähnlichen Szenario hatte ich immer Angst, deswegen verbrachte ich den Abend am liebsten zu Hause. Aber ich blieb auch deswegen gerne zu Hause, weil ich in meiner Schul- und Jugendzeit wenig Freunde hatte, da ich als „anders“ und nicht als „normal“ galt. Aber das ist ein Thema für einen neuen Blog.
Wie sieht es heute aus? Heuer freue ich mich tatsächlich zum ersten Mal seit Ewigkeiten auf Silvester. Ich bin jetzt gehörlos. Und kann jetzt nur mehr Dank dem medizintechnischem Wunder Cochlea Implantat hören. Und dieses Hören ist anders wie früher – aber auch das ist ein Thema für einen weiteren Blog fürs neue Jahr. Ich habe heuer das Privileg, mein Gehör einfach „auszuschalten“, wenn mir Raketen und Co zu laut werden. Diesen „Vorteil“ haben Normalhörende nicht – dafür sind diese auf kein CI angewiesen.
Wie dem auch sei: Silvester ist für mich nun kein „Angst-Tag“ mehr. Ich weiß auch noch ehrlich gesagt nicht was ich am Silvesterabend mache: Vielleicht werfe ich mich ins Stadtgetümmel, vielleicht bleibe ich zu Hause. Eins weiß ich aber: Das Gehör kann mir kein Böller und keine Rakete mehr nehmen.
Und deswegen kann für mich Silvester künftig wieder ein Feiertag werden.
Ich wünsche euch allen viel Gesundheit und Erfolg im Jahr 2017.
Euer Sebastian Fehr, #fehrhoert
PS.: ich bin auch auf Facebook und Twitter unter dem Tag #fehrhoert zu finden und freue mich über Kommentare, tweets und likes!